Dienstag, 15. August 2006
Die Stunde der Heuchler
Der heutige Umgang mit dem dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit gründet auf einem Mythos:
Es heißt, kaum ein Land sonst habe seine Geschichte, die Verbrechen, die Verstrickungen und die Ursachen derart gründlich aufgearbeitet wie Deutschland. So wird der Makel und die Schande für die Nachkriegsgenerationen sogar ins Gegenteil verkehrt: Man ist wieder mal "Weltmeister".

Für mich ist die Schärfe, die man Günter Grass wegen seines Eingeständnisses entgegen bringt, eine direkte Folge dessen: Da war also noch was! Es gibt immer noch etwas, da hatte all die Jahre keiner von gewußt. Und mit der Mär von der, nennen wir's mal: "brutalstmöglichen Aufklärung" [size=1](die ja übrigens auch unaufgeklärt ist)[/size] leidet das reine Gewissen eines jeden, der meinte, er habe es.

Grass war 17, und die elf Jahre davor hatte er als Kind und Jugendlicher, als im unmittelbarsten Sinne "Verführbarer" in diesem System verbracht. Die einzige Frage, die in Abwesenheit irgendwelcher realen Untaten zählt, wäre: Warum erst jetzt? Und wenn man sich die Reaktion jetzt mal ansieht, dann muß man eigentlich nicht mehr fragen; dann hat man auch gleich die Antwort:
Alle, die jetzt aufschreien, sind selbst der Grund.

Unsere "reine Weste" gründet auf millionenfachen "Leichen im Keller". Als Hinweis, auf den ich hier nicht näher eingehen möchte, kann ich nur raten, einmal bei Wikipedia die "Aktion 3" nachzuschlagen. Auch das waren größtenteils "Verführte"; Gelegenheit macht Diebe. Und alle, alle stehen sie bis heute nicht dazu.
Von der Menschlichkeit, mit der Südafrika mit seinen "Wahrheits- und Versöhnungskommissionen" so ein Regime aufarbeitete, ist Deutschland immer noch meilenweit entfernt.
Die Wahrheit zuerst. Der Rest fände sich schon.

marvin

________________________________________

Nicht erschienen um 12:10 im Forum zu Günter Grass SS-Vergangenheit.

... comment

 
Die Aufarbeitung
kann erst beginnen, wenn die Kriegs- und Nachkriegsgeneration ausgestorben ist.

So nach und nach wird das schon.

... link  

 
Welche "Nachkriegsgeneration" muß denn noch sterben?
Eine, die irgendwann ihre Urgroßeltern nicht mehr persönlich kannte?

Wir haben nur die Chance, uns damit ernsthaft auseinanderzusetzen, so lange möglichst viele davon leben. Irgendjemand muß sich noch erinnern, daß selbst die schlimmsten Kriegsverbrecher auch nur Menschen waren - schlimmstenfalls solche wie "Du und ich".

Was den Nazis fehlte, war das Mitleid.
Wenn wir das heute einem halben Kind gegenüber (das Grass damals war) nicht aufbringen, sind wir auch nicht besser. Wir brauchen den Bezug zu uns selbst - und deshalb verachte ich die Tagesschau-Moderation für diese Zensur.

Gruß
marvin

... link  


... comment
 
In der Nacht ist es erschienen. Ich habe den Text stark erweitert und umgeschrieben, aber die wesentlichen Aussagen sind hier drin:
http://forum.tagesschau.de/showthread.php?t=24346

... link  

 
Hier sollte noch ein Nachtrag hin:
Ich habe heute erst nachgehalten, wer wann was zu dieser "Affaire Grass" geschrieben hatte, und nebenbei meine eigene Argumentation in der des Historikers Hans Mommsen wiedergefunden, die anschließend in der sonstigen etablierten Presselandschaft herumging.

Sein Statement stammt vom 15.8. 16:48 Uhr, Frankfurter Rundschau.
Um 12 Uhr des gleichen Tages konnte ich obigen Beitrag nicht posten, nach Mommsens Artikel ging es dann; und sowas erlebe ich nicht zum ersten mal.
Zensoren sind doch echt vorneweg einmal Feiglinge ...

... link  


... comment